Vertane Chance – Wie man bei einem Rücktritt der politischen Kultur einen Bärendienst erweisen kann
Matthias Platzeck hat mit seinem Rücktritt vom Amt des brandenburgischen Ministerpräsidenten die Konsequenzen aus seiner angeschlagenen Gesundheit gezogen. Nur kurz hat das die Diskussion um die Belastungen erneut entfacht, denen Berufspolitiker in Spitzenpositionen ausgesetzt sind. Und dass diese Diskussion auch in Zukunft nur scheinheilig geführt werden wird, daran hat Matthias Platzeck leider selbst einen Anteil.
Wohlverdiente Anerkennung allenthalben, die ZEIT möchte kein Mitleid empfinden, sondern Anerkennung spenden für den Mann, der „nicht verleugnet, wie mörderisch das Politikgeschäft sein kann.“ Kurz zuvor hatte sich das Hamburger Wochenblatt noch selbst kräftig an den Spekulationen um seinen Gesundheitszustand beteiligt und den Zusammenhang mit seiner politischen Zukunft hergestellt („Risikopatient“). Platzeck selbst hatte als damaliger Hoffnungsträger schon einmal einen Spitzenposten aus gesundheitlichen Gründen räumen müssen, als er nach Kreislaufproblemen und zwei Hörstürzen im März 2006 nach lediglich knapp fünf Monaten vom Vorsitz der Bundes-SPD zurücktrat.
Nun hatte er also einen Schlaganfall erlitten und erkennen müssen, dass diese Krankheitsgeschichte mit seinen eigenen, preußischen Ansprüchen an das Amt, das er bekleidet, nicht mehr vereinbar ist.
Nun, vielleicht geht es auch um diese eigenen, vor allem aber geht es um die Ansprüche der anderen, und an Politikerinnen und Politiker sind jene in Deutschland sehr hoch. Hohe Ansprüche an unsere Volksvertreter*innen zu haben ist nun nicht per se schlecht oder unangemessen. Im Gegenteil. Aber zu erwarten, dass sie Übermenschliches vollbringen, quasi Tag und Nacht, das ganze – selbstverständlich urlaubsarme – Jahr über für uns, ihre Wählerinnen und Wähler zur Verfügung stehen, das ist überzogen und unehrlich, vor allem aber trägt es schon den Keim der Enttäuschung in sich, den derlei überzogene Erwartungen zwangsläufig sprießen lassen.
Soweit, so bekannt. Die Haltung der Bürger, oder besser: der Politiker Wahrnehmung davon, führt häufig zu einem Phänomen, das man vielleicht am ehesten vom Klassentreffen kennt. Jeder versucht, den anderen zu übertreffen, wenn es um die eigene Wichtigkeit geht. Vor allem im Job. „Donnerstag war ich noch in New York bei einer Analystenkonferenz. Ich konnte aber nicht bis zum Ende bleiben, weil bei unserem Merger in Madrid übers Wochenende dringend Entscheidungen gefällt werden mussten. Und Montag geht es in London weiter, da launchen wir…“ Das Businesskasper-Phänomen. (Nur zur Klarstellung, das gibt es nicht nur in der Finanzwelt, sondern in jeder Branche – allein: die Sprache eignet sich so hervorragend zur Illustration.) Der Wettstreit um Wichtigkeit hat viele Währungen: Dienstreisen, Firmenwagen, Firmenkreditkarte, Visitenkarten (unvergessen: Christian Bale in „American Psycho“). Stress, das Synonym für diese Wichtigkeit, drückt sich aber vor allem in einem aus: Arbeitsstunden. Je mehr man davon hat, desto besser; für die Welt der Politik übersetzt: desto reiner ist das eigene Engagement für das Gemeinwohl. Das Argument, man werde ja aus Steuermitteln bezahlt, lauert schließlich hinter jeder Ecke. Und weil man Schwäche zugestünde, fiele man in der Wertung zurück.
Politiker*innen haben nun – vor allem in Spitzenämtern, also als Ministerpräsidenten*innen, Bundestagsabgeordnete, Minister*innen, wahrlich Spitzenwerte bei der Arbeitszeit. Viele Jahre lang war dem „Kürschner“, dem Abgeordnetenhandbuch, ein Kapitel vorangestellt, in dem der Wochenablauf eines Bundestagsabgeordneten beschrieben wird. Viele Abgeordnete haben ähnliche, eigene Wochenabläufe online gestellt. Zum einen, um Transparenz herzustellen, das ist löblich, mitunter sogar selbstverständlich. Zum anderen aber auch, um dem Rechtfertigungszwang zu genügen, mit dem Volksvertreter*innen den oben beschriebenen, teils überzogenen Erwartungen der Bürger begegnen.
Matthias Platzeck ist kein Businesskasper. Dennoch hat er sich in der Pressekonferenz, in der er seinen bevorstehenden Rücktritt bekanntgab, zu folgendem Satz hinreißen lassen: „Platzeck,“ habe einer seiner Ärzte gesagt, „40, 50 Stunden kannste gut und gerne arbeiten, und das auch noch zehn Jahre […], aber 80 Stunden: vergiss es!“. Und ergänzt: In 40, 50 Stunden sei das Amt eines Ministerpräsidenten nicht zu bewältigen. Das sei nicht möglich.
Vielleicht wollte Matthias Platzeck nur vorbauen. Er möchte ja Abgeordneter bleiben. Fragen nach der Vereinbarkeit dieses auch nicht ganz unwichtigen Amtes mit seinem Gesundheitszustand wollte er womöglich den Wind aus den Segeln nehmen. Zeitgleich hat er dem Engagement aber ein Preisschild verpasst. Abgeordneter in Brandenburg: 40-50 Stunden pro Woche. Ministerpräsident: 80 Stunden. Roland Koch hat sogar mal gesagt, man müsse bereit sein, 100 Stunden zu arbeiten als Ministerpräsident.
Umgekehrt heißt das: Wer nicht bereit oder in der Lage ist, diese Zeit zu investieren, kann kein solches Amt übernehmen. Platzeck sagt das sogar fast wörtlich. Warum eigentlich nicht? Es lag vielleicht nicht in seiner Absicht, aber die Folgen werden nachhaltig sein. Ihm hätte man zugehört, wenn er die überzogenen Erwartungen an Politiker*innen infrage gestellt hätte. Der Bezifferung hätte es nicht bedurft. Die interessierte Öffentlichkeit, so darf nach dem Echo auf seinen Rücktritt gefolgert werden, hätte in jedem Fall Verständnis dafür gehabt, wenn Platzeck seine Gesundheit über sein Amt gestellt hätte. Einfach aus sich heraus begründet, ohne allen die 30 bis 40 Wochenstunden (wenn es nach Koch geht, sind es 50 bis 60 – wer bietet mehr?) vorzurechnen, die angeblich zwischen dem Abgeordnetenmandat und dem Ministerpräsidentenamt liegen. Statt für Verständnis zu werben und so zu helfen, die Erwartungen, die Bürger*innen an ihre Politiker haben, auf ein erträgliches und gegenüber sich selbst ehrliches Maß zu stutzen, zementieren solche unnötigen Äußerungen genau die Erwartungen, an denen manche Politikerkarrieren zerbrechen.
Hinweis: Der Büdinger Kreis e.V. setzt sich seit Jahren in seiner Bildungsarbeit dafür ein, die Welt der Politik mit der Welt der Bürger zu versöhnen, eben Brücken zu bauen. Dies erfordert unserer Erfahrung nach von beiden Seiten, auf einander zuzugehen.